Als Elessar ein paar Tage später den Tempel betrat, bemerkte er einen Mann, der vor dem Altar kniete
und einen Dolch mit einer handlangen, schlanken Klinge quer in den Händen hielt und in ein Gebet versunken schien. Verwundert
trat er zu ihm und sprach leise:
"Paladin zum Gruße! Darf ich fragen, was Ihr mit einer blankgezogenen Waffe im Haus des Gerechten
anstellen wollt? Mein Herr zeigt kein Interesse an Blutopfern und Feinde habt Ihr in diesem Haus nicht zu fürchten."
Der Mann schaute auf und blickte den Elf mit glanzlosen und von Tränen geröteten Augen an und erwiderte
tonlos:
"Keine Angst, Priester, ich werde hier kein Blut vergießen! Ich wollte Euren Gott vor meinem letzten
Gang lediglich um ein Zeichen bitten."
Elessar horchte auf und entgegnete:
"Vor Eurem letzten Gang? Zieht Ihr in einen aussichtslosen Kampf und rechnet mit Eurem Tod? Oder habt
Ihr ein Verbrechen begangen und erwartet die Strafe?"
Worauf der Mann abwinkte und ebenso tonlos wie zuvor antwortete:
"Meinen Kampf habe ich bereits verloren und ja, wenn Ihr den Freitod als Verbrechen anseht, dann habe
ich wohl vor, eines zu begehen. Aber ich kam nicht an diesem Ort, um darüber zu sprechen."
Doch der Elf schüttelte den Kopf und sprach:
"Als Priester bin ich natürlich gegen den Freitod, aber es ist nicht an mir, Euch zu richten. Zudem
wird die Frage, ob der Freitod ein Verbrechen ist, seit jeher von jedem Volk und jeder Kultur unterschiedlich beantwortet.
Es gibt beispielsweise Völker, die an die Wiedergeburt glauben und der Meinung sind, dass ein Freitod selten eine Lösung
darstellt, denn in den meisten Fällen erinnert sich der Wiedergeborene an sein früheres Leben."
Er machte eine kurze Pause und fuhr dann fort:
"Doch sagt, wollt Ihr mir nicht erzählen, wie Ihr zu Eurem Entschluss kamt?"
Der Fremde zeigte eine abweisende Miene und schüttelte den Kopf, doch dann zuckte er mit den Schultern
und seufzte:
"Obwohl es darauf auch nicht mehr ankommt..."
Er schien kurz zu überlegen, wo er beginnen sollte, dann setzte er zu sprechen an, hielt wieder inne
und sprach zögernd:
"Es ist nicht einfach, den Anfang dieser Geschichte festzulegen. Wisset, mein Leben verlief nicht
immer gut, ich habe schon manche Schlacht geschlagen und schon manchen Schicksalsschlag zu bewältigen - zumindest aus meiner
Sicht, auch wenn ich sehr wohl weiß, dass es Menschen gibt, die es weit schwerer haben. Aber leider trifft einen meist
nichts schlimmer als das eigene Unglück und so ist es schon seit vielen Jahren so, dass ich mein Leben quasi als gescheitert
erachte. Lediglich Heim und Weib hielten mich lange davon ab, den Gedanken an den Freitod weiter zu verfolgen, bis ein
Unfall dazu führte, dass mein Weib sich zurückzog und keinen Umgang mehr mit ihren Mitmenschen pflegen wollte. Kurz schien
das Glück zurückzukehren, als wir vor ein paar Jahren ein Kind erwarteten, doch obwohl dies Kind unser Ein und Alles scheint,
geschah es, dass nur noch mehr Streit in unserem Hause herrschte, mein Weib mit der Zeit kaltherzig und verbittert wurde
und wir mehr nebeneinander her, denn gemeinsam lebten.
Als ich dann eine Weile in die Fremde ziehen musste, um unseren Lebensunterhalt zu sichern, keimte ein
Hoffnungsschimmer, dass eine zeitweilige Trennung und ein daran anschließendes gemeinsames Leben in einer neuen Heimat zu
einer besseren Zukunft führen könnte, doch wie sich schnell zeigte, trog dieser Schein. Mein Weib zog sich noch mehr zurück
und alles wurde noch schlimmer."
Der Mann machte eine Pause, während der er betreten zu Boden blickte, dann schaute er Elessar abrupt in
die Augen und fragte:
"Habt Ihr gewusst, dass es zwei Arten von Frauen gibt, denen man nie in die Augen blicken sollte?
Die Einen sind diejenigen, deren Augen ebenso kalt wie ihr Herz sind und deren lieblosen Blicke einen regelrecht zu Stein
erstarren lassen. Und die Anderen... ja, die Anderen sind die, deren Augen so warmherzig und unergründlich sind, dass sie
Geborgenheit verheißen und man sich beim ersten Blick unsterblich verliebt. Ohne zu zögern würde man ihnen ewige Liebe
versprechen."
Er lachte verbittert auf und fragte:
"Wie ist das bei Elfen, versprechen Elfen sich etwas für die Ewigkeit?"
Er schien tatsächlich eine Antwort zu erwarten, denn er sprach nicht weiter, sondern blickte Elessar
geradezu herausfordernd an. In dem Moment der Stille, der nun herrschte, wurde der Paladin schier überwältigt von den
Erinnerungen an Carthangiel und er musste sich Mühe geben, keine Gefühlsregung zu zeigen, denn er hatte den Verlust seiner
Liebsten noch immer nicht überwunden. Als er sich wieder gefasst hatte, antwortete er ruhig:
"Nein, wir Elfen versprechen uns nichts für die Ewigkeit. Gemessen an unserer Lebensspanne wäre
das unmöglich. Stattdessen versprechen wir uns, einen Weg gemeinsam zu gehen, bis die erste Lüge zwischen uns steht."
Der Fremde lachte erneut verbittert auf und erwiderte:
"Die erste Lüge? Nun, dann habe ich mein Weib wohl belogen. Weil ich in die Augen einer anderen Frau
geschaut und mich darin verloren habe. Wir haben viel miteinander geredet, gescherzt, einander aufgezogen und gemeinsam
gelacht und irgendwann spürte ich, dass ich mehr empfand als Freundschaft. So begann ich, ihr den Hof zu machen und habe
sie mit Liebesbezeugungen überhäuft, von denen sie auch sehr angetan schien. Sie hat mich darauf hingewiesen, dass nichts
geschehen dürfe, was nicht sein dürfe, doch ebenso sehr hat sie mir immer wieder neue Hoffnung gemacht. Vor wenigen Wochen
sind wir dann wohl zu weit gegangen, auch wenn eigentlich nichts geschah. Wir haben uns an einem einsamen Ort getroffen
und erneut darüber gesprochen, dass wir lediglich Freunde sein dürfen, doch dann haben wir uns einmal kurz in den Armen
gelegen, einmal habe ich ihre Lippen berührt, als sie mich geküsst hat. Doch im selben Augenblick hat sie sich mir
entzogen, weil sie nicht zur Ehebrecherin werden wollte. Auch wenn ich immer wusste oder fürchtete, dass meine Liebe
nicht erwidert werden wird, in jenem Augenblick war meine Seele unrettbar verloren!
Obwohl - oder gerade weil - ich alles für sie aufgegeben hätte, habe ich ihre Entscheidung schweren
Herzens akzeptiert und wir hatten beschlossen, dass uns weiterhin unsere Freundschaft verbinden würde, dass der Kuss ein
Abschiedskuss gewesen sei. Aber wären mir meine Träume geblieben, wäre das ein kleiner Trost gewesen, denn ihre Augen
gehen mir nicht mehr aus dem Sinn und ich vermag an nichts anderes mehr zu denken. Doch entgegen ihrem Versprechen hat
sie nun abrupt jeglichen Kontakt abgebrochen und ich ertrage es nun nicht, sie tagtäglich zu sehen, ohne auch nur ein
Wort mit ihr sprechen zu können. Aber selbst dafür kann ich sie nicht hassen, ich verspüre nur noch unendliche Traurigkeit,
die mich innerlich zerfrisst und mich zugrunde richtet, mein Leben ruiniert. Ich lebe derzeit mit einer doppelten Lüge und
kann mich nicht länger verstellen! Es ist eben viel leichter, verbotenes Glück zu verbergen als verbotenes Unglück. Ich
habe weder Hoffnungen, noch Träume, noch weitere Ziele. Und aus diesem Grund habe ich beschlossen, diesmal den Kampf
aufzugeben und meinem Leben ein Ende zu setzen."
Er hob abwehrend die Hände und fügte hinzu:
"Und kommt mir nicht mit meinem Weib und meinem Kind! Die beiden zieht es in die alte Heimat und
sie würden lieber heute als morgen zurückkehren. Nach mir wird kein Hahn krähen und wenn ich erst einmal tot bin, dann
können die beiden sich ihren sehnlichsten Wunsch erfüllen..."
An dieser Stelle erstarb die Stimme des Mannes zu einem Flüstern und schließlich herrschte Stille.
Elessar wartete einen Moment, dann legte er dem Mann eine Hand auf die Schulter und sprach:
"Ich verstehe Euren Zwiespalt und Eure Sorgen! Lasst mich Euch etwas erzählen... auch ich habe
meine Liebe verloren und kenne bis heute nicht den Grund. Eines Tages, als ich von meinen Reisen zurückkehrte, fand ich
unser Heim verlassen vor. Ich fand keine Nachricht und niemand wusste etwas über den Verbleib meiner Liebsten zu sagen,
es schien, als sei sie von einem Tag auf den anderen spurlos verschwunden. Ich kann mit Fug und Recht sagen, dass unser
gemeinsamer Weg ein schöner Weg war und mir keine Lüge bekannt ist, die zwischen uns gestanden hätte und ich habe viele
Monde damit verbracht, sie zu suchen. Aber ohne Erfolg! Ich weiß bis heute nicht, wo sie ist, was sie gerade tut, ich weiß
nicht einmal, ob sie noch lebt, aber noch immer spüre ich dieses Band, das uns verbunden hat und so lange ich dies spüre,
so lange werde ich meine Liebe zu ihr in meinem Herzen verwahren. Und gerade weil ich nicht weiß, warum sie fort ist, ob
freiwillig oder gezwungenermaßen, kann ich auch meine Hoffnung nicht verlieren. Wer oder was sagt Euch, dass Eure Liebe
unerwidert ist? Nur, weil sie derzeit nicht offen erwidert wird, heißt das noch lange nicht, dass sie nicht vorhanden ist!
Und was Euer Kind betrifft: ich musste ohne meine Eltern aufwachsen und kann Euch versichern, dass ein Kind seine Eltern
mehr denn alles andere braucht, und zwar Mutter und Vater!"
Der Fremde hatte dem Paladin wortlos zugehört und schien nun zu überlegen, was er antworten solle.
Nach einigen Augenblicken erhob er sich und steckte den Dolch in die Scheide an seinem Gürtel, dann nickte er, wobei
er sprach:
"Nun, Priester, Eure Worte mögen den Schimmer einer Hoffnung bergen, doch ob ein solch kleines
Lichtlein lange genug brennen wird, um mir den Weg zum Rande der Finsternis, in der ich derzeit wandele, zu zeigen, sei
dahin gestellt. Mag es sich erweisen, ob Euer Erscheinen jenes Zeichen war, das ich von Eurem Gott erbeten habe.
Lebt wohl!"
Ohne ein weiteres Wort von Elessar abzuwarten, drehte er sich um und verließ den Tempel.
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Einige Tage später brachten die Waldläufer von einem ihrer Streifzüge die Leiche eines Mannes mit
zum Aiyeona, die sie auf einer ruhigen Lichtung tief in den Elfenwäldern gefunden hatten. Der Tote hatte sich einen
schlanken Dolch durch eines seiner Augen tief ins Gehirn gestoßen. Es war der Mann, mit dem Elessar sich ein paar Tage
zuvor im Tempel unterhalten hatte. Der Priester schlug das Schutzzeichen Paladins über seiner linken Brust und bat
die Waldläufer, den Toten nach menschlichen Gebräuchen zu bestatten, bevor er sich mit einem Seufzen auf den Weg zum
Garten der Stille machte.
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