Heilsame Kräfte
 

Nach einer schnellen Reise ohne Zwischenfälle ritt Elessar gemächlich durch das Stadttor von Drachenauge, um sich auf dem Weg zum Hafen zu machen. Obwohl die Sonne inzwischen fast das Firmament erreicht hatte und hell strahlend den einzigen Farbtupfer auf einem sonst wolkenlosen blauen Himmel bildete, reichte ihre Kraft an diesem Herbsttag bei weitem nicht mehr aus, um zu einer angenehm zu nennenden Temperatur zu führen. Das in der Lautstärke zunehmende Kreischen der Möwen kündete von der Nähe des Hafens und der Paladin zog seinen Umhang ein wenig fester um sich, denn als er sich dem Wasser näherte, hatte er das Gefühl, die Temperatur würde noch weiter fallen und ein leichter Wind erreichte das Land aus Richtung des Meeres und spielte mit den langen Haaren des Elfen. Das geschäftige Treiben im Hafen schien Var'sha, dem Falken, der Elessar an diesem Tag begleitete, nicht zu gefallen, denn unruhig drehte er den Kopf und äugte hierhin und dorthin, bevor er sich mit einem schrillen Schrei in die Luft erhob und sich auf dem Rand des Feuerkorbes, dessen Feuer in der Nacht den Schiffen den Weg zum Hafen wies und das zu dieser Stunde bereits lange erloschen war, auf dem Dach des Hafengebäudes niederließ. Die Höhe und der damit gewonnene Abstand zu dem Gewirr aus Personen und Karren mit Waren schien den Falken wieder zu beruhigen, denn nach einigen weiteren Flügelschlägen blieb er majestätisch umherblickend ruhig sitzen.

Mit leichtem Schenkeldruck lenkte Elessar seine Stute Shi'ouya zum Hafengebäude, sprang dort von ihrem Rücken und gab ihr, während er sie zwischen den Ohren kraulte und ihr sanft durch die Mähne strich, durch ein paar geflüsterte elfische Worte zu verstehen, dass sie warten solle. Dann betrat er das Gebäude und fragte dort, ob das erwartete Schiff aus Isua bereits eingetroffen sei und wo er es finden könne. Nachdem man ihm den Weg zu dem entsprechenden Liegeplatz erklärt hatte, eilte der Paladin über das Kai zu der besagten Stelle und kam gerade rechtzeitig zum Beginn der Löscharbeiten; die Passagiere würden also noch ein Weilchen auf sich warten lassen und so schaute er teils interessiert den Schauerleuten bei ihrer Arbeit zu, teils versuchte er, seine von freudiger Erwartung hervorgerufene Unruhe durch eine Meditationsübung zu mindern. Es war nun schon fast ein Jahr vergangen, seit er den Tempel seines Ordens im Silmataurea verlassen hatte und der unregelmäßige Austausch von Nachrichten, deren Überbringung durch einen Boten immer mehrere Wochen in Anspruch nahm, hatte zwar dazu geführt, dass er über die Geschehnisse in seiner Heimat ebenso unterrichtet war, wie der Orden des Lichtes über seine Arbeit, aber seit seiner Abreise hatte er mit keinem der Angehörigen des Ordens ein persönliches Gespräch geführt. Umso mehr hatte es ihn gefreut, als er in der letzten Nachricht die überraschende Neuigkeit gelesen hatte, dass er heute außergewöhnlichen Besuch erwarten dürfe.

Inzwischen waren die Löscharbeiten beendet und die ersten Passagiere verließen das Schiff über die breiten Planken, die die Distanz von der Bordwand zur Kaimauer überbrückten. Elessar trat näher heran, um im rechten Augenblick zur Stelle zu sein und wartete auf das Erscheinen seines Gastes, doch erst einige Minuten, nachdem alle Passagiere das Schiff verlassen hatten, erschien eine weitere Gestalt an der Reling. Eine in eine himmelblaue Robe gekleidete, schlanke, hochgewachsene Lichtelfe mit hüftlangen schneeweißen Haaren, die unbändig über ihren Rücken wallten und den Eindruck erweckten, als könnten sie Licht selbst in tiefste Dunkelheit tragen und diese auf ewig bannen, trat auf die Planken und schritt dem Paladin lächelnd entgegen. Glatt und alterslos waren ihre Züge, doch ihre Augen verrieten die Kraft und Weisheit des hohen Alters und obwohl ihre Erscheinung von Stolz und Würde gezeichnet war, vermittelte sie doch den Eindruck einer Person, deren Leben von Demut, anstelle von Hochmut geprägt wurde.

Als die beiden Elfen sich gegenüber standen, strahlten Elessars Augen vor Freude, doch er legte seine rechte Hand auf seine linke Brust über sein Herz, verbeugte sich und sprach:

"Lle silma aa'sil ten'oio, Atara en me'a!"

Er kniete vor ihr nieder, wobei er den Kopf beugte und wartete, bis sie an ihn herantrat und ihre Hand leicht auf seinen Kopf legte; anschließend erwiderte sie die rituelle Begrüßung mit den Worten:

"Ar'lle elen aa'tait amin silma ten'oio!"

Der Paladin erhob sich und nun, da die rituelle Begrüßung abgeschlossen war, lachte er auf und umarmte die Elfe herzlich. In diesem Augenblick traten zwei weitere Personen auf die Planken, um das Schiff zu verlassen. Elessar kannte die beiden; der Zwerg namens Brandur Feuerschmied und die Waldelfe Fianna Sternenkind waren ein ebenso ungleiches, wie herausragendes Paar, was sie bereits auf vielen Reisen, die sie seit mehr als einem Jahrzehnt nur noch gemeinsam unternahmen, unter Beweis gestellt hatten; während Brandur mit seiner riesigen Doppelaxt, die von einem unbekannten Zwerg aus bestem Stahl geschmiedet und danach mit elfischen Schutz- und druidischen Stärkezaubern belegt worden war, im Nahkampf nahezu unbezwingbar war, verließ Fianna sich mehr auf ihren elfischen Bogen, der bisher noch nie sein Ziel verfehlt hatte. Heute erweckten sie den Eindruck, dass sie völlig unbeteiligt wären und bildeten während dieser Reise wohl die Leibwache der Ordenshüterin. Als die beiden Leibwächter neben Elessar und Elenlantar Ranar, so der Name der Mutter des Lichts, zum Stehen gekommen waren, legte der Paladin erneut seine Rechte auf die Brust über dem Herzen und grüßte die beiden mit einem freundlichen Nicken; dann wandte er sich wieder an die Ordenshüterin:

"Es ist mir eine Freude, Euch hier begrüßen zu dürfen und ganz besonders freue ich mich, dass Ihr mir die Ehre erweist, auch weiterhin meine Lehrmeisterin zu sein!

Wenn es Euch genehm ist, dann würden wir noch heute meine Ausbildung beginnen, da die Akademie, an welcher wir diese durchführen müssen, sich hier in der Hauptstadt befindet. Sobald diese abgeschlossen ist, würden wir die Reise in die Elfenstadt antreten, wo der Hauptsitz des neuen Ordens zu finden ist."

Elenlantar nickte und antwortete:

"Und mir ist es eine Freude, Euch noch immer wiss- und lernbegierig zu sehen! Mit diesem Wissen ist es mir ein Leichtes, die Neuigkeiten über den neuen Orden erst morgen zu erfahren."

Der Paladin lachte leise auf und deutete mit einer angedeuteten Verbeugung in Richtung des Hafengebäudes, während er sprach:

"So lasst uns aufbrechen; wenn Ihr mir bitte folgen würdet!"

Und so geleitete er die Ordenshüterin und ihre beiden Leibwächter zur Hafenmeisterei, wo er nach Shi'ouya pfiff, die sich daraufhin zu ihnen gesellte und neben Elessar hertrabte; Var'sha erhob sich von seinem Platz und kreiste eine Zeit lang, schrille Schreie ausstoßend über dem Hafengelände, bevor er in Richtung des Parkes um die Kathedrale davonschoss. Elessar schaute ihm kurz hinterher, dann machte die Gruppe sich auf den Weg zur Akademie. Wenig später stand Elessar einmal mehr vor dem riesig anmutenden Geäude, das die Akademie des Reiches beherbergte, diesmal jedoch in Begleitung seiner Ordensmutter Elenlantar Ranar. Ihre beiden Begleiter, der Zwerg Brandur Feuerschmied und die Elfe Fianna Sternenkind, sahen sich auf Elessars Vorschlag hin die Hauptstadt des Reiches an, um die Wartezeit zu überbrücken. Anfangs wollten sie diesem Vorschlag nicht zustimmen, doch nachdem der Paladin alle davon überzeugt hatte, dass der Mutter des Lichts in den Straßen dieser Stadt keine Gefahr drohte, hatte Elenlantar den beiden noch einmal ausdrücklich versichert, dass sie sich entfernen durften; sie würden sich nach der Prüfung Elessars alle im Gasthaus versammeln und vor der Abreise nach Sha'Nurdra eine Stärkung zu sich nehmen.

So betraten die beiden Elfen die große Halle der Akademie und schritten an den Gemälden und Statuen ehemaliger Herrscher Dragonias zu dem großen Tisch, an dem man sein Begehr kundtun konnte. Seit seinem letzten Besuch hatte sich scheinbar nicht viel verändert und Elessar fragte sich, wieso er bisher keine Nachricht mehr von Meister Orion erhalten hatte, mit dem er damals vereinbart hatte, dass sie sich bei Gelegenheit zusammensetzen wollten, um über einen Wissensaustausch zu beraten. Am großen Tisch angekommen, grüßte er die dahinter sitzende Person mit einem freundlichen Lächeln:

"Paladin zum Gruße! Mein Name ist Elessar Eledhwen; ich war bereits vor einigen Mondläufen zur Weiterbildung in der Kunst des Lesens und Schreibens hier und sollte also in Euren Pergamenten verzeichnet sein. Heute würde ich mich gerne in einer weiteren Fähigkeit weiterbilden; da das Wissen um diese Fähigkeit allein den Angehörigen meines Ordens vorbehalten bleibt, habe ich einen Lehrmeister, oder besser, eine Lehrmeisterin in meiner Begleitung."

Der Paladin deutete auf die neben ihm stehende Mutter des Lichts und fuhr fort:

"Dies ist Elenlantar Ranar, die Hüterin des Ordens des Lichtes im Silmataurea. An wen müssen wir uns wenden, um eine Genehmigung für meine vorgesehene Ausbildung zu erhalten?"

Elessar lächelte sein Gegenüber abwartend weiter an, doch dann fügte er noch hinzu:

"Ach ja, und sagt, wäre es hernach möglich, eine Audienz bei Meister Orion zu erhalten? Ich hatte mit ihm bei meinem letzten Besuch eine Beratung über  einen Wissensaustausch zwischen der Akademie und der Bibliothek Sha'Nurdras vereinbart."

Erstaunt vernahm Elessar von dem Verschwinden Meister Orions und noch größer war sein Erstaunen, als ihm Noq als neuer Leiter der Akademie genannt wurde; er blickte in die ihm gewiesene Richtung und richtig, da stand der ihm bekannte Elf. Er wandte sich wieder Lurenz zu und antwortete ihm:

"Nun, werter Lurenz, auch mir ist es eine Freude, Euch kennen zu lernen! Ich werde dann später einmal Noq um eine Audienz bitten, um die den Wissensaustausch betreffende Angelegenheit zu besprechen, aber die angestrebte Ausbildung hat Vorrang.

Es handelt sich um eine Weiterbildung in einer Fähigkeit, die heilende Wirkungen besitzt, so dass wir keine besonderen Anforderungen an einen Raum stellen, aber wenn Ihr derzeit Kranke, Verletzte oder gar Vergiftete, seien es Personen oder Tiere beherbergt, würde ich mich anbieten, diese im Rahmen dieser Ausbildung unentgeltlich zu heilen."

Der Paladin wartete gespannt auf eine Antwort; anschließend wandte er sich an Elenlantar und deutete ihr mit einer Handbewegung an, voraus zu gehen. Gemeinsam nahmen sie die große Treppe und machten sich auf den Weg zu dem angegebenen Raum. An der Tür zum Krankenzimmer angekommen, klopfte der Paladin an und stellte sich und seine Begleitung vor, um dann Sinn und Zweck seines Besuchs zu erläutern. Dann ließ er sich die Personen zeigen, die nach Meinung der Pflegerinnen wohl am ehesten Hilfe nötig hätten, weil sie am schwersten vom Schicksal getroffen waren und man führte ihn in eine Ecke des großen Raumes, die durch von an den dicken Deckenbalken aus dunklem Eichenholz aufgehängte Decken vom Rest des Raumes abgetrennt war. Hier siechten mehrere Personen regelrecht vor sich hin, alle hilflos und nur ab und an bei Besinnung, so dass man ihnen ein wenig Wasser oder eine dünne Suppe einflößen konnte. Ansonsten schaute man regelmäßig nach ihnen, um die Betten in Ordnung zu bringen oder einen frischen kühlenden Umschlag aufzulegen, aber mehr konnten die Heiler in diesen Fällen bisher nicht verrichten. Zwei Personen wurden ihm genannt, die die Heiler bislang vor die größten Rätsel stellten, eine junge Frau, deren Körper an vielen Stellen von bläulich-schwarzen Flecken und eitrigen Pusteln überzogen war, und ein Zwerg, der im Fieberwahn lag und sich alle paar Minuten unruhig hin- und herwarf; eine der Pflegerinnen ließ verlauten, dass man vermutete, er wäre vergiftet, doch konnte niemand sagen, um welches Gift es sich handelte und wie es in den Körper des Gevatters gelangt war.

So begaben Elessar und Elenlantar sich in diesen abgetrennten Bereich, um wenigstens ein wenig ungestört über die bevorstehende Weiterbildung sprechen zu können. Der Paladin hoffte, dass er wenigstens einige dieser bemitleidenswerten Geschöpfe von ihrem Leiden befreien konnte, doch dazu musste er erst einmal die Hürden nehmen, die mit der Verwendung der göttlichen Macht verbunden waren. Er nahm das Buch mit dem edlen Ledereinband, das er aus dem Tempel mitgebracht hatte hervor und reichte es seiner Ordenshüterin; gleichzeitig erzählte er ihr, wie er die Grundzüge des Handauflegens mit Hilfe des Buches und einem Heilversuch an einer sich selbst zugefügten Wunde erlernt hatte. Elenlantar hatte zwar selbst keinen Zugang zur Gabe, doch war sie eine derjenigen Personen, oder sogar die letzte noch lebende Person, die vor ewigen Zeiten den letzten der Paladine des damaligen Ordens der Zwölf persönlich gekannt hatte. Sie selbst verfügte über starke magische Kräfte, die jedoch laut ihrer eigenen Aussage nur zu einem Teil auf astraler Energie beruhten, doch hatte sie keinerlei Erklärung dafür, wieso dem so war. Im Orden des Lichtes kursierte das Gerücht, dass der Gerechte selbst sie einst auserkoren und ihr einen Teils seiner Macht vermacht hatte, weil sie aus freien Stücken den letzten Paladin in ihrem Heim aufgenommen und gepflegt hatte. In dieser Zeit wurde sie von seinen Lehren und Anschauungen inspiriert und hatte sich daran gemacht, den Orden des Lichts zu gründen und mit der Zeit hatte sie mit Hilfe des Paladins immer mehr Anhänger gefunden, die sich dem Orden angeschlossen haben, um auf den Wegen des Lichts zu wandeln. Erst viel später wurden dann unter den Anhängern die ersten Gläubigen entdeckt, die Zugang zu der Gabe hatten und somit den Grundstein für die Hoffnung auf eine einstige Neugründung des Ordens legten.

Die Mutter des Lichts blätterte eine Weile in dem Buch und sah dann und wann auf, um Elessar forschend anzublicken; dann vertiefte sie sich in ein bestimmtes Kapitel und las dieses sehr aufmerksam durch, bevor sie wieder aufblickte und sich an den Paladin wandte:

"Nun, Elessar, aus der Schrift wird eines ganz besonders deutlich und dies deckt sich auch mit den Erzählungen von Menahem, dem letzten der damaligen Kriegerpriester: je weiter Ihr in Euren Studien kommt und die Verwendung der göttlichen Macht trainiert, um so schwieriger wird es, sie zu meistern. Dies müsst Ihr Euch immer vor Augen halten, denn der Nutzen den Ihr für andere aus ihr zieht, wird zur gleichen Zeit umso erschöpfender für Euch selbst sein! Und je mehr Kraft Ihr daraus schöpfen wollt, umso tiefer müsst Ihr in Euch gehen!"

Sie klappte das Buch zu und legte es beiseite, bevor sie fortfuhr:

"Stellt es Euch einfach so vor, als würdet Ihr einen großen Stein einen Berg hinauf rollen. Je weiter Ihr nach oben kommt, desto kräftezehrender wird es sein, diesen Stein nicht nur zu halten, sondern ihn auch weiter hinauf zu bringen. Und wenn Ihr ihn denn letztendlich loslasst, damit er ins Tal hinab rollen kann, umso verheerender wird seine Macht sein und umso geringer wird die Möglichkeit der Kontrolle sein. Geht also stets mit Bedacht vor und wägt den Nutzen und den dafür erforderlichen Einsatz genau gegeneinander ab!

Ihr habt bereits den Umgang mit der göttlichen Macht erlernt und wisst, wie man sie zum Heilen von Verletzungen einsetzt; jetzt solltet Ihr einfach versuchen, das Muster der Macht ein wenig zu ändern, um damit auch Krankheiten oder Vergiftungen behandeln zu können. Da Ihr jedoch kein Heiler seid, wird es Euch oft nicht gelingen, eine Diagnose zu stellen und die Krankheit oder das Gift zu identifizieren, so dass Ihr tatsächlich darauf angewiesen seid, Eurem Glauben in Paladin zu vertrauen. Er allein mag entscheiden, ob Ihr schließlich Erfolg habt, oder nicht! Doch solltet Ihr nie an ihm zweifeln, denn wie alle Götter hat er immer einen Grund, warum Euch die eine Anwendung gelingt, während eine weitere fehlschlägt!" 

Elessar lauschte aufmerksam den Worten seine Ordensmutter und nickte des öfteren verstehend oder zustimmend; als sie ihn schließlich aufforderte, zu versuchen, bei der Anwendung des Handauflegens das Muster der Macht seinen Wünschen entsprechend zu verändern und anzupassen, stutzte er unmerklich. Hatte er nicht beim Erlernen einer weiteren Fähigkeit im Zusammenhang mit der göttlichen Macht, dem Bannen von Untoten und Dämonen, gelernt, dass Änderungen im Muster der Macht die Wirkung während und nach deren Kanalisation bestimmen? Sollte es tatsächlich genau so einfach - nun, einfach konnte man es nicht gerade nennen, aber das Prinzip blieb das Gleiche - sein, um die Wirkung des Handauflegens zu variieren? Der Elf nickte Elenlantar noch einmal entschlossen zu und schloss dann die Augen, um sich zu konzentrieren; als er den Punkt inmitten seines geistigen Zentrums gefunden hatte, waren seine Handflächen alsbald von einem gleißenden Licht umgeben und er fühlte - nein, trotz der geschlossenen Lider sah er - die Zusammenballung der göttlichen Macht wie die einzelnen Faserstränge eines Seiles. Er ergriff im Geiste einzelne Stränge und versuchte, sie zu beeinflussen und somit ihre Lage zueinander zu verändern, was zur Folge hatte, dass sich auch die Farbe des Lichtes änderte. Doch anscheinend war er zu hastig vorgegangen, denn sofort schlug die Farbe nach Blau um und das Licht umgab nicht weiter die Handflächen, sondern schien sich fächerartig von ihnen auszubreiten - er war im Begriff, die Macht zum Bannen von Untoten zu nutzen. Elessar löste seine Konzentration und das Leuchten verschwand; dann öffnete er die Augen und senkte fast beschämt den Blick. Doch Elenlantar legte ihre Hand auf seinen Unterarm und sprach:

"Seit wann gebt Ihr so schnell auf? Auch wenn es sich um eine gottgegebene Fähigkeit handelt, könnt Ihr keinen Nutzen daraus ziehen, ohne den Umgang mit ihr zu erlernen. Auch hier gilt: Übung macht den Meister! Also versucht es weiter!"

Der Priester wusste, dass seine Ordensmutter Recht hatte und so schloss er erneut die Augen, um in sich zu gehen. Als er dieses Mal die Stränge der Macht vor seinem inneren Augen hatte, ging er behutsamer vor und tastete sich langsam voran, indem er nunmehr immer nur einen Strang ergriff. Mehrere Male schien es ihm, als entgleite ihm einer der Stränge, weil er sich nicht recht darauf konzentrierte, doch bei einem weiteren Versuch schaffte er es dann und endlich änderte sich der Farbton des Lichtes, das seine Handflächen umgab, nur noch um Nuancen, die ein Außenstehender, der die Handflächen real betrachtete, wohl nicht erkennen konnte. Elessar wurde zuversichtlicher und spielte ein wenig mit den Strängen, um herauszufinden, wie weit er gehen durfte, bis das Muster der Macht sich erneut verkehrte und für das Handauflegen "unbrauchbar" wurde. Dann löste er erneut seine Konzentration und blickte die ihm gegenüber sitzende Elfe an.

"Werte Mutter, ich denke, ich bin der Quintessenz auf der Spur! Meint Ihr, ich könnte den Versuch wagen, einen der Kranken heilen zu wollen?"

Elenlantar nickte nur und antwortete lächelnd:

"Die Kraft und das Wissen kommen alleine aus Euch!"

Der Paladin schöpfte Mut aus den Worten seiner Ordensmutter, wusste er doch um ihre große Weisheit. Was sollte auch schief gehen? Entweder er hatte Erfolg mit der Behandlung und der Kranke wurde geheilt oder das Handauflegen misslang, was aber keine negativen Folgen nach sich ziehen würde. So schritt er an das Bett der kranken Frau und wiederholte die Prozedur, wie er sie eben mehrmals geübt hatte. Als das Leuchten um seine Handflächen endlich wieder erstarb und er die Hände von den behandelten Stellen nahm, schien die Behandlung rein äußerlich geglückt zu sein; die schwarz-bläuliche Färbung war fast vollständig verschwunden und die Haut wirkte wieder gesund und rosig, doch die Heilung breitete sich nicht aus. Elessar versuchte es ein weiteres Mal, doch wieder mit dem gleichen Ergebnis; die behandelten Stellen wirkten wieder gesund, doch keine andauernde Heilung war zu verzeichnen. Inzwischen war der Priester sichtlich erschöpft von der Anstrengung, so dass nicht einmal die aufmunternden Worte Elenlantars ihm an diesem Tag noch die Hoffnung geben konnten, er hätte einen wirklichen Lernerfolg zu verzeichnen und sie einigten sich, die Übungen am nächsten Tag fortzusetzen.

So verließen die beiden Elfen die Akademie, nachdem sie sich bei Lurenz abgemeldet und ihre Wiederkehr für den kommenden Tag verkündet hatten und begaben sich in das Gasthaus, wo sie sich nach einem kleinen Mahl in die Betten ihrer gemieteten Räume begaben. An diesem Abend lag Elessar trotz seiner Erschöpfung noch lange wach und überlegte, was er beim nächsten Versuch ändern könnte. Fast die ganze Nacht verbrachte er mit diesen Überlegungen, nur unterbrochen von Gebeten und Meditationsübungen, bis er kurz vor Sonnenaufgang in einen unruhigen Schlaf fiel. Trotz der wenigen Stunden war er am kommenden Morgen seltsam frisch und ausgeruht und begab sich nach einem gemeinsamen Frühstück mit Elenlantar erneut in die Akademie, wo er frohen Mutes erneut ans Werk ging.

Der Ablauf an diesem Tag war nicht viel anders und wieder war er mit dem gleichen geringen Erfolg, der in den Augen Elessars schon eher ein Misserfolg war, gekrönt. Doch noch immer wollte er nicht aufgeben und auch Elenlantar drängte ihn zum Weitermachen, da sie überzeugt war, dass er es schaffen würde. So verbrachten die beiden Elfen auch einen dritten und einen vierten Tag in der Akademie, an denen Elessar in stets der gleichen Weise lernte, übte und zum Abschluss versuchte, die Kranke zu heilen. Und endlich, am vierten Tag wollte es ihm gelingen; hatte sich nach den erfolglosen Behandlungen das Krankheitsbild während den Nächten stets wieder verschlechtert, konnte der Priester am darauffolgenden Tag immer wieder die gleichen Körperstellen behandeln. An diesem Tag jedoch verschwanden nach dem Auflegen der Hände nicht nur alle Hautflecken und Pusteln, sondern auch das Fieber der Frau ging zurück und sie öffnete erstmals die Augen, um dem Elf mit einem klaren, nicht durch den Fieberwahn getrübten Blick ungläubig anzustarren.

Angespornt durch diesen Erfolg, wollte der Paladin nun auch den vergifteten Zwergen heilen und versuchte in einer weiteren Behandlung, das unbekannte Gift aus dem Körper des Zwergen zu vertreiben. Unglücklicherweise schaffte er es trotz aller Anstrengung nicht, dem Zwergen zu helfen und so wandte er sich niedergeschlagen ab, um Elenlantar vorzuschlagen, die Heilung am nächsten Tag noch einmal zu versuchen. Doch diese schüttelte den Kopf und nahm ihn zur Seite, um beruhigend auf ihn einzureden:

"Nein, Elessar, lasst es gut sein! Ihr habt gezeigt, dass Ihr Eure Fertigkeiten geschult und verbessert habt, aber es sind noch sehr viele Studien auf diesem Gebiet notwendig, um die nächste und höchste Stufe der Perfektion zu erreichen. Jedoch müsst Ihr erst einmal weitere Erfahrung sammeln, um diesen Ausbildungsstand in Betracht zu ziehen. Mögen die Götter geben, dass die hiesigen Heiler dem Gevatter in Zukunft helfen können, doch wenn er noch hier sein sollte, wenn Ihr wieder kommt, werdet Ihr es zu diesem Zeitpunkt mit Sicherheit können. Doch nun lasst uns gehen; Eure derzeitige Weiterbildung ist damit abgeschlossen!"

Mit einem verstehenden Nicken trat Elessar an das Bett des Zwergen, schlug das Paladinsymbol über seiner linken Brust und sprach leise "Möge der Gerechte Eurer Seele gnädig sein!"; dann wandte er sich ab und schritt hinter Elenlantar zur Tür, von wo aus er einen letzten bedauernden Blick zu dem daniederliegenden Zwerg warf. Dann eilten die beiden Elfen die Treppe hinunter zu Lurenz, wo Elessar den Obolus für seine Ausbildung zahlte und sich verabschiedete.